Schöner Regen heute, nicht wahr?
Ein Bericht vom Eiland der guten Manieren und der Selbstbeherrschung. - Die Regeln des »Danke«-Spiels. - Ich belächle die traditionsgebundenen Engländer und werde dabei gelb vor Neid. - Wunderbare Rettung von einer Untergrund-Büffelherde. - Auch in England machen sich Verbrechen nicht bezahlt, aber es ist doch etwas dran. - Veranstaltung des tollsten Raubüberfalls in der Geschichte der englischen Kinematographie. - Englischer Humor und was man dagegen tun kann. - Die Aufspaltung des Stadtteils St. John in dreißig Straßen und deren belebender Einfluß auf das Taxigewerbe. - Ein Abenteuer unter Mitwirkung von Hunden und verrückten Engländern. - Die Fenster von Amsterdam (für Jugendliche unter 16 Jahren verboten).
Geographisch ist England ein Teil von Europa. In Wirklichkeit ist es ein Teil von sich selbst und von gar nichts sonst. Wir merkten das schon im Augenblick unsrer Landung.
Vielleicht entsinnt sich der geneigte Leser noch der Presseberichte über den Gewittersturm, der vor einiger Zeit den Ärmelkanal heimgesucht hat und Ausmaße annahm, an die sich auch die ältesten Seebären nicht erinnern konnten. Das Schicksal fügte es, daß meine Gattin und ich gerade an diesem Rekordtag den Kanal überquerten. Unser Schiff wurde von den wild schäumenden Wogen hin- und hergeschleudert wie die berühmte Nußschale, die in solchen Fällen immer zu Vergleichszwecken herangezogen wird, obwohl es auf wild schäumenden Wogen noch nie eine Nußschale gegeben hat, ausgenommen unser Schiff. Da die epische Schilderung von Naturkatastrophen in der heutigen Literatur als minderwertig gilt, beschränke ich mich auf die Mitteilung des heiligen Eides, den ich eine halbe Stunde nach Ausbruch des Sturms geschworen habe: Ich würde, so schwor ich, mich für den Rest meines Lebens in einen Kibbuz zurückziehen und mich dem vollständigen Wiederaufbau der Klagemauer in Jerusalem widmen, wenn ich mein nacktes Leben retten könnte. Da dieser Schwur nichts fruchtete, ersetzte ich ihn nach einer weiteren halben Stunden durch den folgenden: »O Herr, ich verzichte auf mein nacktes Leben, nur laß mich bitte nicht sterben... «
Diese Formulierung hatte Erfolg. Wenige Stunden später sichteten wir die weißen Klippen von Dover, die schon so viele Dichter vor mir begeistert hatten, vermutlich nach ähnlichen Kanalüberquerungen. Wir taumelten auf den Pier, warfen uns nieder, küßten die allgütige Mutter Erde und machten gleich darauf Bekanntschaft mit dem englischen Nationalcharakter. Hinter uns kroch ein britischer Gentleman auf allen vieren über den Laufsteg. Er hatte sich während der Überfahrt in einem so erbärmlichen Zustand befunden, daß wir um sein Leben gebangt hätten, wenn uns überhaupt Zeit geblieben wäre, um etwas andres zu bangen als um unser eigenes Leben.
Seine britische Gattin erwartete ihn.
»Hallo, Darling«, sagte sie zur Begrüßung. »Nette Überfahrt gehabt?«
»Reizende Überfahrt«, antwortete er. »Obwohl der Wetterbericht gar nicht so gut war.«
Ich muß bemerken, daß es um diese Zeit noch hagelte. Dicke, erbsengroße Körner.
In der Regel gibt es vier Jahreszeiten im Jahr: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Das gilt auch für England. Allerdings haben sie dort alle vier Jahreszeiten am selben Tag. Morgens Sommer, mittags Winter, abends Herbst und Frühling. Manchmal auch umgekehrt. Es gibt keine festen Regeln. Man schaut zum Fenster hinaus: Der Himmel ist strahlend blau, die Sonne scheint. Freudig verläßt man das Haus, tritt auf die Straße hinaus - und springt zurück, weil wenige Schritte entfernt soeben ein Blitz eingeschlagen hat. Wassersturzfluten, wohin man blickt. Man eilt die Stiegen hinauf, rafft Regenmantel und Schirm an sich, tritt abermals auf die Straße - und wird von freundlichem Vogelgezwitscher empfangen. Am wolkenlosen Himmel lacht die Sonne. Mit Recht.
Nach zwei Tagen hatten wir noch immer nicht das Geheimnis gelöst, warum die Engländer nicht auswandern. Auch die Eingeborensten unter ihnen geben zu, daß sie das Wetter verrückt macht. Sie nehmen sich sogar die Mühe, das zu beweisen.
Es ist eine alte Erfahrung, daß Regenschirm-Völker am liebsten über das Wetter sprechen. Trotzdem erstaunte es mich ein wenig, als ich einmal an einer Bus-Haltestelle von einem Regenschirmträger mit den Worten angesprochen wurde:
»Schönes Wetter heute, nicht wahr?«
Ich glotzte ihn an.
»Das nennen Sie schön? Dieses grauenhafte, schwüle, feuchte Wetter nennen Sie schön?«
Der Fremde erbleichte, preßte die Lippen zusammen und wandte sich ab. Erst viel später wurde mir klar, daß ich ihn maßlos gekränkt hatte. In England muß man zu fremden Menschen höflich sein, das ist ein unübertretbares Gebot.
Wenn jemand sagt: »Schönes Wetter heute, nicht wahr?«, dann hat man zu antworten: »Ja, sehr schön, nicht wahr?«, auch wenn man im nächsten Augenblick von dem gerade losbrechenden Wirbelsturm gegen die Häuserwand geschleudert wird. Sobald man wieder auf den Beinen steht, sagt der Fremde »Wirklich sehr schön, nicht wahr?«, worauf man antwortete: »Ja, wirklich, nicht wahr?« Das kann stundenlang dauern, denn die strengen Spielregeln verlangen, daß man jeden Satz mit »nicht wahr?« abschließt, also mit einer Frage; und unter wohlerzogenen Leuten ist es üblich, eine Frage nicht unbeantwortet zu lassen.
In Frankreich ist das Leben aufregend, in Israel ist es anstrengend, in England ist es angenehm. Jeder Mensch in England erzählt jedem anderen Menschen, wie angenehm das Leben in England ist. Denn die Engländer sind disziplinierte und manierliche Leute. Gewiß, die Konformisten unter ihnen - und soviel ich feststellen konnte, gibt es nur konformistische Engländer - empfinden keine besondere Zuneigung zu irgend jemand oder irgend etwas, mit Ausnahme ihres Kamins, in dessen freundlicher Wärme sie gar manchen heißen Sommertag verbringen, und ihres Hundes, mit dem sie stundenlang die aktuellen Tagesprobleme diskutieren. Aber das alles ändert nichts daran, daß sie das Volk der besten Manieren sind. Es gibt keinen Anlaß, aus dem der Engländer nicht »Danke« sagen würde. Manchmal sagt er es auch ohne jeden Anlaß, zum Beispiel, wenn man sich erkundigt, wie spät es ist:
»Ich weiß nicht. Danke.«
Um den geneigten Leser einen konkreten Fall von britischer Wohlerzogenheit vorzuführen, schildere ich nachstehend meinen Besuch - oder besser gesagt: meinen Abschied nach erfolgtem Besuch - im Ministerium für den Aufbau und Ausbau kultureller Beziehungen oder sonstwas. Der Leiter des einschlägigen Büros, ein Mr. MacFarland, hatte mich freundlich empfangen und bewirtet (mit Tee, wenn ich nicht irre) und geleitete mich am Ende zur Tür des hochgewölbten, mit dunklem Eichenholz getäfelten Raums, dessen Entstehung nachweisbar auf das Jahr 1693 zurückgeht.
Als wir die Türe erreicht hatten, hielten wir beide auf gleicher Höhe an.
»Bitte sehr«, sagte Mr. MacFarland. »Nach Ihnen, Sir.«
Und er vollführte die dazugehörige Handbewegung.
Um diese Zeit hatte ich bereits zwei Tage auf britischem Boden verbracht und war mit den Lebensformen zivilisierter Völkerschaften halbwegs vertraut geworden.
»Oh, bitte, Mr. MacFarland.« Ich blieb stehen. »Nach Ihnen.«
»Sie sind mein Gast, Sir. Ich bin hier zu Hause.«
»Alter zählt mehr als Schönheit«, scherzte ich. »Nach Ihnen.«
Der abwechslungsreiche Dialog dauerte einige Minuten. Ich war in großer Eile, aber ich wollte Mr. MacFarlands Gefühle nicht verletzen. Es war erstens ein Engländer und zweitens wirklich bedeutend älter als ich.
»Ich bitte Sie, Mr. MacFarland«, sagte ich und gab ihm einen sanften Stoß, um ihn zum Vortritt zu animieren.
»Um keinen Preis«, antwortete MacFarland, ergriff meinen Arm und drehte ihn mit geübtem Judo-Griff in Richtung Türe. »Bringen Sie mich bitte nicht in Verlegenheit.«
»Sie sind der Ältere«, beharrte ich, setzte mit meiner freien Hand eine einfache Nackenschraube an und zerrte ihn zur Türe. »Nach Ihnen, Mr. MacFarland.«
»Nein... nein... hier ist... mein Büro.« Mr. MacFarland keuchte ein wenig, weil mein Klammergriff ihm gewisse Atembeschwerden zu verursachen begann. Schon sah ich mich als Sieger. Plötzlich stellte er mir ein Bein, so daß ich ins Taumeln geriet. Aber ein rascher Griff nach einem an der nahen Wand hängenden Gobelin brachte mich wieder ins Gleichgewicht und bewahrte mich vor einem entscheidenden Positionsverlust:
»Ich bestehe darauf, Mr. MacFarland. Nach Ihnen.«
Mein linker Ärmel war während dieses Austausches von Höflichkeiten in Fetzen gegangen, und MacFarlands Hosen waren an mehreren Stellen geplatzt. Eine Weile standen wir einander schwer atmend gegenüber und rührten uns nicht. Dann setzte MacFarland unvermittelt zu einem Hechtsprung gegen meine Magengrube an. Ich sprang rasch zur Seite, und er landete krachend im Aktenschrank. »Nach Ihnen, Sir!« Mit Schaum vor dem Mund erhob er sich, packte einen Bürosessel und schwang ihn durch die Luft.
»Nach Ihnen, Mr. MacFarland!« Ich bückte mich, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und griff nach dem Schürhaken. Der Bürosessel segelte über meinen Kopf hinweg. Ein riesiges Porträt Winston Churchills, das in Glas und Rahmen an der Wand hing, zersplitterte. Auch ich zeigte mich nicht sehr zielsicher: Die Flugbahn meines Schürhakens hatte zur Folge, daß das Licht ausging.
»Nach Ihnen, Sir«, hörte ich Mr. MacFarland durch die Dunkelheit krächzen. »Ich bin hier zu Hause.«
»Aber Sie sind der Ältere«, antwortete ich und schleuderte einen Tisch in die Richtung, aus der seine Stimme gekommen war. Diesmal traf ich ihn. Mit einem gurgelnden Aufschrei sank MacFarland zu Boden. Ich bahnte mir durch die herumliegenden Trümmer den Weg zu ihm, hob seinen leblosen Körper auf und rollte ihn in den Korridor. Natürlich rollte ich ihn vor mir über die Türschwelle. Ich weiß, was sich gehört.
Auf immer neue Art wird der Ausländer von der Selbstdisziplin und den guten Manieren der Inselbewohner beeindruckt. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ein beleibter Mann auf einer Londoner Bahnstation einen bereits zum Bersten überfüllten Zug zu besteigen versuchte. Er schob und stieß mit Schultern und Ellbogen, um für sich und seine drei Koffer Platz zu schaffen. In jedem anderen Land wären ihm schon nach kurzer Zeit sämtliche Zähne eingeschlagen worden. Die wohlerzogenen Engländer begnügten sich damit, seine Anstrengungen stumm zu beobachten. Sie fanden es unter ihrer Würde, in irgendeiner Form einzugreifen.
Endlich ließ ein älterer Herr sich vernehmen:
»Warum drängen Sie, Sir? Auch andere Leute sitzen gerne.«
»Das kümmert mich nicht«, fauchte der Angeredete und gebärdete sich weiterhin wie ein wildgewordener Stier. »Nur weil die anderen sitzen wollen, werde ich nicht bis Southampton stehen.«
Niemand würdigte ihn einer Entgegnung. Man ignorierte ihn ganz einfach. Und als er sich tatsächlich auf einen Sitz gezwängt hatte, ließ man ihn ruhig sitzen. Keiner der Fahrgäste verlor ein Wort an ihn. Um so weniger, als der Zug nach Birmingham fuhrt, also genau in die entgegengesetzte Richtung von Southampton.
Sie sind wirklich ein sonderbares Volk, diese Engländer. Man merkt das auf allen öffentlichen Verkehrsmitteln. Auf den Autobussen zum Beispiel hat man das Gefühl, von lauter Helden umgeben zu sein, die in eine tödliche Schlacht ziehen. Vierundzwanzig Stunden am Tag mischen sich im Gesichtausdruck des Engländers heroische Entschlossenheit und selbstverständliche Sprungbereitschaft, als gelte es die Erfüllung einer historischen Mission. Wenn sie den Bus verlassen, möchte man ihnen am liebsten die Hand schütteln und ein paar aufmunternde Worte sagen, etwa:
»Kopf hoch, alter Junge. Es dauert nicht mehr lange, und die ewige Dankbarkeit der Nation ist dir sicher!«
Sollte der geneigte Leser infolge irgendeines Irrtums jemals in das Haus eines Engländers eingeladen werden, dann darf es ihn nicht überraschen, wenn der Hausherr vor Beginn der Mahlzeit seinen linken Schuh auszieht und ihn mit Sand füllt. Es handelt sich hier um ein geschichtliches Erinnerungs-Zeremoniell: Während der Kämpfe um den Mount Tabor im Jahre 1193 hatten sich König Richards Schuhe mit Sand gefüllt, und eine eigene, in Schottland gelegene Fabrik ist bis heute ausschließlich damit beschäftigt, diesen speziellen, unter der Schutzmarke »Schottenfüllung« registrierten Schuhsand zu erzeugen. Es geht nichts über Tradition.
Und das ist bei weitem nicht alles. Jede Biskuit-Packung, die etwas auf sich hält, trägt eine Inschrift mindestens folgenden Inhalts: »Der Patentbrief zur Erzeugung dieses Biskuit wurde von König Karl während der Belagerung der Stadt Glasgow ausgestellt, als Seine Majestät sich von den Anstrengungen der Schlacht durch den Genuß unserer schmackhaften Erzeugnisse erholte.« Die andere Seite der Packung zeigt das Porträt des Königs mit einem satten, zufriedenen Gesichtsausdruck.
Es gibt Zeiten, in denen selbst der gewöhnliche Ausländer in nahen persönlichen Kontakt mit den Engländern kommen kann, meistens zwischen vier und sechs Uhr nachmittag, während der Stoßstunden.
In London leben ungefähr acht Millionen Menschen. Siebeneinhalb Millionen benützen zwischen vier und sechs Uhr nachmittags die öffentlichen Verkehrsmittel, um nach Hause zu fahren. Das ist der Grund, warum der Schreiber dieser Zeilen zwischen vier und sechs Uhr nachmittags nie ein öffentliches Verkehrsmittel benützt hat, außer an jenem unvergeßlichen Donnerstag.
Allerdings wurden meine Frau und ich dadurch irregeführt, daß wir am Ansatz der Treppe, die zu der betreffenden Untergrundbahnstation hinabführte, keine Schlange sahen.
Dann wird's schon nicht so schlimm sein, dachten wir und begannen den Abstieg. Unten angelangt, herrschte plötzlich ein solches Gedränge, daß wir sofort umkehren wollten. Es ging nicht mehr, und von da an verloren wir jeden Einfluß auf die Entwicklung der Dinge. Als wir an den Kassenschalter herangezwängt wurden, konnte ich noch mit knapper Not meine Geldbörse hervorziehen, aber sie wieder einzustecken, war mir nicht mehr möglich. Ich mußte sie während der ganzen Fahrt in der Hand halten. Die geliebte Gestalt meiner Frau sah ich zuletzt hoffnungslos eingekeilt auf der Plattform. Sie wandte mir ihr süßes Antlitz zu, und ich hörte sie etwas rufen, wovon ich nur Bruchstücke verstand:
»Leb wohl, Geliebter... auf ewig dein... und vergiß nicht... die Schlüssel... «
Dann entschwand sie endgültig meinen Blicken.
Während der Fahrt verspürte ich dann und wann von seitwärts den Griff eines Regenschirms zwischen den Rippen und glaubte ihn an der Form als den ihren zu erkennen. Um mich zu vergewissern, hätte ich den Kopf drehen müssen - aber wie? Ein Herr im schwarzen Mantel stand so dicht gegen meine Brust gepreßt, daß sogar unsere Nasen sich verschwisterten. Ich starrte ihm aus einer Entfernung von höchstens 4 Zentimetern in die Augen; sie waren von himmelblauer Farbe, und ihre Pupillen flackerten unruhig. Wie sein Gesicht aussah, konnte ich nicht feststellen. Zu meiner Linken erspähte ich ab und zu die Umrisse einer Sportkappe, die sich an meinem Oberschenkel wetzte. Und von der anderen Seite her bohrte sich der schon erwähnte Regenschirmgriff in meinen Brustkorb.
»Weib!« rief ich aufs Geratewohl. »Bist du's?«
Nach dreimaliger Wiederholung drang aus meilenweiter Ferne ein schwaches Stimmchen an mein Ohr:
»Liebster... ja... ich glaube, daß ich es bin...«
Sie lebte also! Meine freigebliebene Hand - mit der anderen hielt ich noch immer meine Geldbörse umklammert - tastete in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, verfing sich aber in einem fremden Büstenhalter, so daß ich alle weiteren Nachforschungen einstellen mußte. Auf meinen Füßen - ich wußte nicht, auf welchem, denn ich hatte längst die Kontrolle über sie verloren - stand ein fremder Mensch, was meine Bewegungsfreiheit noch mehr beeinträchtigte. Dafür gelang es in einer scharfen Kurve meinem blauäugigen Gegenüber, seine Nase mit jähem Ruck von der meinen abzuziehen. Unsere Wangen klatschten leise aneinander und blieben fortan in Schmiegeposition, als wären wir ein argentinisches Tango-Tanzpaar. Zum Glück hatte ich einen gut rasierten Partner. Die Verbindungswege zu meiner Frau waren völlig zusammengebrochen.
Dies alles verblaßte jedoch vor einer neuen Katastrophe, die mir drohte: Ich mußte niesen. Schon seit einer ganzen Weile spürte ich das kommen. Jetzt stand es unmittelbar bevor. Und wenn ich jetzt nicht sehr schnell zu meinem Taschentuch käme, würde Fürchterliches geschehen.
Übermenschliche Kräfte durchfluteten meinen linken Arm. Indem ich jedes kleinste Rütteln des Zuges ausnützte, gelang es mir, meinen Tangopartner so weit wegzudrücken, daß ich mit der Hand bis in die Hosentasche kam. Damit war aber erst der leichtere Teil des Unternehmens bewältigt. Um die Hand mit dem Taschentuch auch an meine Nase führen zu können, bedurfte ich noch einer gewaltigen Portion Glück.
Es gelang. An der nächsten Haltestelle verließ einer der Fahrgäste den bisher von ihm gehaltenen Posten auf meinem Fuß und stellte dadurch einen Teil meiner Manövrierfähigkeit wieder her. Zwar schloß mich gleich darauf die nachdrängende Menge aufs neue ein, aber in jenem kurzen Augenblick relativer Freiheit hatte ich das Taschentuch tatsächlich in Nasenhöhe gebracht.
Bloß die Lust zum Nießen war mir unterdessen vergangen. So ist das Leben.
Meine Hand mit dem Taschentuch verharrte in der erreichten Position, halblinks vom Mantelkragen des Blauäugigen und schräg unterhalb meines Kinns. Dort begann sie langsam zu erstarren.
Eine Minute später entglitt das Taschentuch meinen fühllos gewordenen Fingern und senkte sich in den Schoß des Sportkappenträgers.
Ich hatte keine Möglichkeit, mit dem Mann in Fühlung zu kommen. Ich konnte ihn nur stumm aus meinem rechten Augenwinkel beobachten.
In der nächsten Kurve blickte er zufällig an sich hinab, entdeckte das Taschentuch, hielt es für einen hemdeigenen Toilettenfehler und stopfte es so rasch er konnte in seine Hose. Das verursachte ihm einige Mühe und, wie es schien, auch Verlegenheit. Kurz darauf stand er auf und verdrückte sich in der Menge. Möglicherweise ist er sogar ausgestiegen.
Als ich nach Hause kam, wurde ich bereits von meiner Frau erwartet. Wir stellten fest, daß wir das lebensgefährliche Abenteuer mit geringfügigen Bekleidungsschäden und Hautabschürfungen überstanden hatten, die wir in häuslicher Pflege belassen konnten.
Irgendwo in London, in einem Paar wildfremder Hosen, ruhte mein Taschentuch.
Wofür interessiert sich der Engländer wirklich? Woran erfreut er sich in seinem Heim? Was entzückt ihn? Ist es der vorbildlich gepflegte Rasen? Die glorreiche britische Flotte? Die Magna Charta? Shakespeare? Die Beatles? Das alles erfüllt ihn mit Stolz, gewiß. Aber was ihn wirklich begeistert, ist die Kriminalstatistik.
Die Diät des durchschnittlichen Engländers besteht in der Konsumation eines Thrillers pro Tag. Wenn er damit fertig ist, dreht er die Augen himmelwärts und beklagt das ständige Anwachsen der Kriminalität auf seiner geliebten Insel. Und in der
Tat: Es hat den Anschein, als wäre England das bevorzugte Aktionsgebiet aller Meisterverbrecher der Geschichte.
»Die Liste der bei uns verüben Sexualdelikte ist größer als die von ganz Westeuropa zusammen«, äußerte verträumten Blicks mein britischer Gewährsmann. »Nehmen Sie Jack the Ripper. Wo gibt es seinesgleichen noch? Oder Mr. Grippen, der nicht weniger als neun Frauen mit eigener Hand erwürgt und die Leichen im Keller seines Hauses in einem Schwefelsäurepräparat aufgelöst hat! Ist das nicht phantastisch? Oder denken Sie an diesen unheimlichen Irren, der den Sheffield-Express zum Entgleisen brachte. Oder an den gewaltigen, noch immer nicht aufgeklärten Postraub vom vorigen Jahr... Übrigens erhalten die bedeutendsten Taschendiebe der Welt ihre Ausbildung in Soho, und die Londoner East Side beherbergt unvergleichliche Safe-Knacker. Ganz zu schweigen von den Juwelendieben, die damals den zwei Meilen langen Tunnel gelegt haben, um an den Kronschatz im Tower heranzukommen... Lauter geniale Burschen, auf ihre Art...«
Ohne diesen durchaus begreiflichen Nationalstolz - dem man auch die kleine, harmlose Prahlsucht nicht übelnehmen kann - hätten es die Engländer wohl nie zur Meisterschaft in einem ganz bestimmten Kunstzweig gebracht: Wir meinen die Kriminalfilme, in denen etliche liebenswerte Gentlemen dicht unter den Augen einer unfähigen Polizei die tollsten Verbrechen begehen und Erfolg damit haben. Erst ganz am Ende, im allerletzten Augenblick, gewissermaßen mit dem Schlußpfiff des Schiedrichters, kommen Gesetz und Moral doch noch zu ihrem Recht, etwa indem die Schurken an einer Wegbiegung ihre Beute verlieren, die dann zufällig von der Polizei gefunden wird.
Aber unsre Sympathie gehört den ehrenwerten Mitgliedern der britischen Unterwelt, die vor unseren Augen einen alten Menschheitstraum verwirklichen: das perfekte Verbrechen...
Zum Dank, und zum Zeichen unsrer Wertschätzung, präsentieren wir einen szenischen Entwurf für den Film »Der Überfall auf die Bank von England«, mitten im Zentrum Londons, vor den Augen der Passanten und mit tatkräftiger Hilfe der Polizei. Achtung, Aufnahme!
Zeit: 0.30 Uhr. Eine halbe Stunde nach Mitternacht. Alles ist bereit.
Die drei vom »Royal Arms Club« zur Verfügung gestellten Experten - Major Forsythe, Spezialist für Dynamitsprengungen, Oberst i. R. James F. Foggybottom, ehemaliger Kommandant der 6. Fallschirmspringer-Division, und Albert Sheffield, ein hoher Beamter im Finanzministerium - haben vor dem versperrten Eingangstor der Nationalbank Posten bezogen. Sie tragen schwarze Masken und verfügen über alle Werkzeuge, die zur klaglosen Durchführung der Aktion vonnöten sind. Im gleißenden Licht der von mehreren Stellen auf das Eingangstor gerichteten Jupiterlampen erkennt man deutlich die schweren Stahlplatten. Major Forsythe ist mit dem fachgemäßen Anbringen einer Dynamitladung beschäftigt, während Peter Seilers seine ganze Popularität einsetzt, um die neugierig herandrängenden Zuschauer wegzuscheuchen:
»Bitte weitergehen, Ladies and Gentlemen! Nicht so nahe! Wir können sonst nicht arbeiten!«
Das nützt natürlich nichts. Die Leute lassen sich nicht vertreiben.
»Was ist denn los?« fragen sie. »Was geschieht hier?«
»Ein Raubüberfall auf die Bank von England«, erklärt Seilers. »Das perfekte Verbrechen.«
»Aha... interessant...«
Auf einem Faltstuhl gegenüber dem grell angeleuchteten Portal sitzt Sir Alec Guiness, auf dem Kopf die Kappe mit dem großen Lichtschirm, in der Hand den Einstellung-Sucher. Daneben, auf eindrucksvoll hochgeschraubtem Gestell, die Kamera. Sir Alec erteilt den Mitwirkenden die letzten Anweisungen:
»Seid ihr so weit?« ruft er. »Also. Wenn das Tor gesprengt ist, dringt ihr sofort ein. Ich möchte weder Zeit noch Material für eine zweite Aufnahme verschwenden! Ist ein Polizist in der Nähe?« »Jawohl, Sir!« Das wachhabende Sicherheitsorgan meldet sich. »Hier bin ich, Sir!«
»Bitte sorgen Sie dafür, daß wir nicht gestört werden. - Alles fertig? Klappe!«
Während der Polizist die Neugierigen abdrängt, hält Peter Seilers eine schwarze Tafel vor die Kamera; sie trägt folgenden mit Kreide geschriebenen Text:
DER GROSSE BANKRAUB, AUSSEN, NACHT.
EINSTELLUNG 7. SCHUSS I.
Die am untern Ende der Tafel angebrachte Holzklappe wird zugeschlagen. Mit angehaltenem Atem beobachtet die Menge, wie Major Forsythe die Zündschnur in Brand steckt. Surrend schwenkt die Kamera hinter der immer schneller an der Schnur entlangzüngelnden Flamme her.
Plötzlich eine furchtbare Explosion. Das stählerne Tor der Bank von England biegt sich, springt aus den Angeln und fällt dröhnend aufs Straßenpflaster. Aus den dicken Rauchschwaden wankt wie betäubt eine Männergestalt hervor, die Augen schreckhaft geweitet:
»Hilfe!« schreit der Nachtwächter der Bank von England.
»Räuber! Polizei! Überfall! Hilfe!«
»Sehr gut!« ruft ihm Sir Alec aufmunternd zu. »Bitte noch etwas lauter! Mehr Panik in der Stimme! Ausgezeichnet!« Jetzt springt Oberst i. R. Foggybottom auf den Nachtwächter los, um ihn mit einem wohlgezielten Hieb k. o. zu schlagen. Der Nachtwächter taumelt, geht in die Knie, rollt ein paar Meter seitwärts und zeigt an den weiteren Vorgängen kein Interesse.
»Schnitt!« Sir Alec macht eine abschließende Handbewegung. »Gut bei mir! Kopieren.«
Die Menge entspannt sich. Einige zittern vor Nervosität. Man wohnt ja nicht jeden Tag einer so aufregenden Filmaufnahme auf offener nächtlicher Straße bei.
Aber auch kritische Stimme werden hörbar.
»Der Nachtwächter war nicht sehr überzeugend... er ist falsch erschrocken... ich habe den Dialog nicht verstanden... Unsinn, der Dialog wird erst später im Atelier aufgenommen... stimmt, hier ist zuviel Lärm...«
Jetzt fährt Peter Seilers wieder dazwischen:
»Bitte um Ruhe! Und bitte nicht so weit nach vorn drängen! Wir müssen mit dem Raubüberfall fertig werden, solange es noch dunkel ist!«
In den Fenstern der umliegenden Häuser werden verschlafene Gestalten sichtbar:
»Schon wieder eine Filmaufnahme«, murmeln sie mißmutig. »Filme und nichts als Filme. Warum machen sie das nicht in ihren Ateliers...«
»Davon verstehen Sie nichts!« hält ihnen ein Eingeweihter entgegen. »Es würde viel zuviel Geld kosten, im Atelier die Bank von England aufzubauen...«
Ein Zuschauer spricht sich dafür aus, die Szene, in der der Nachtwächter niedergeschlagen wird, zu streichen; die Zensur würde so etwas nie durchlassen.
Ein andrer fragt, ob das schon die endgültige Fassung sei. »Wir machten während der Aufnahme kleine Änderungen«, antwortet Peter Seilers.
Wieder andere versuchen zu erraten, welche Schauspieler sich hinter den schwarzen Gesichtsmasken verbergen.
Der wachthabende Polizist erkundigt sich, welche Gesellschaft den Film dreht.
»Unsere eigene.«
»Und wer finanziert die Produktion?«
»Die Regierung.«
Ob die Szenen genau in der Reihenfolge gedreht werden, fragt eine Laie.
Peter beruhigt ihn. Gerade jetzt sei man im Innern des Gebäudes mit der nächsten Sequenz beschäftigt.
»Ruhe!« unterbricht Sir Alec. »Ich möchte die Alarmglocke von drinnen klar aufs Tonband bekommen! Fahren wir!«
Die Kamera fährt dich an die gesprengte Mauer heran.
Major Forsythe kriecht durch das Loch. Im nächsten Augenblick schrillt die Alarmglocke.
»Schnitt!« brüllt Sir Alec - und schon schneidet der Major die elektrischen Drähte durch. Das Alarmsignal verstummt. Einige Umstehende bemerken tadelnd, daß es sich hier um eine plumpe Nachahmung amerikanischer Gangsterfilme handelt.
Zwei Überfallwagen der Polizei erscheinen auf der Bildfläche und bringen wieder ein wenig Disziplin in die unruhig gewordene Menge. Sie überprüfen die Apparaturen, klettern zu den Jupiterlampen hinauf, stellen dumme Fragen, stören die Arbeit und werden noch auf andre Weise lästig:
»Könnten wir nicht irgendwie ins Bild kommen? Nur für einen einzigen Schuß! In der Totale? Seid nett!«
Sir Alec wählt fünf von den Gesetzeshütern aus und läßt sie das Gebäude betreten, wo gerade die letzte Aufnahme gedreht wird.
Die freiwilligen Helfer strahlen vor Glück, sind begeistert, daß sie den schweren Stahlsafe heraustragen dürfen und kommen bei dieser Gelegenheit vom Profil ins Bild. Dann legen sie den Safe auf die Seite. Diese Aufnahme wird mehrmals wiederholt, so daß Major Forsythe von allen Seiten Löcher in den Stahl drillen kann, wobei er unter dem grellen Jupiterlicht in Schweiß gerät und erbärmlich flucht.
Endlich, gegen vier Uhr morgens, kommt die letzte Einstellung dran:
ABTRANSPORT DER BEUTE, AUSSEN, NACHT.
EINSTELLUNG I8. SCHUSS I.
Achtzig Millionen Pfund werden in Tausenderbündeln in große graue Säcke gestopft. Kameras und Jupiterlampen werden abmontiert und zusammen mit den Geldsäcken auf ein bereitstehendes Lastauto verladen, das unter den Hochrufen der Zuschauer davonfährt.
»Bye-bye!« ruft der Kommandant des Überfallkommandos hinterher. »Und vergeßt nicht, uns Karten zur Premiere zu schicken! Bye-Bye!«
Die Bemannung des Lasters winkt fröhlich zurück und verschwindet mit ihrer Beute im Dunkel der Nacht.
An der nächsten Straßenkreuzung erfolgt ein Zusammenstoß mit einem um die Ecke biegenden Sportwagen, dessen Fahrer zusammensackt und leblos über dem Lenkrad liegenbleibt.
»Hölle und Teufel«, preßt Sir Alec zwischen den Zähnen hervor. »Wir haben den britischen Filmzensor getötet.«
Alle stehen erschüttert, einige haben Tränen in den Augen. Bei den letzten 270 Raubüberfallen auf die Bank von England hat sich der Zensor immer als loyaler Freund erwiesen. Sir Alec seufzt auf und verständigt sich durch stumme Blicke mit den anderen. Wortlos beginnen sie die Säcke mit den gestohlenen Banknoten in den Wagen des Zensors zu verladen...
ABBLENDEN
Die Londoner Straßen bieten manch sehenswerten Anblick. Während der ersten Tages unsres Aufenthaltes hatten meine Frau und ich immer wieder die größte Mühe, nicht laut herauszulachen, wenn wir die Scharen junger, schnurrbürtiger Engländer sahen, die ganz in Schwarz gekleidet waren, mit schwarzen Melonen auf dem Kopf, einem schwarzen Regenschirm in der Rechten und in der Linken unweigerlich die »Times«. Es war zu komisch. Nach ein paar Tagen hatten wir uns an diesen Anblick gewöhnt und schämten uns unsres unreifen Betragens.
Und dann, eines Abends, gingen wir ins Theater. Man gab eine englische Komödie. Auf der Bühne erschien ein Schauspieler in der oben beschriebenen Gewandung, welche auch die Gewandung der meisten Zuschauer war - worauf die Zuschauer in ein so schallendes, immer wieder losplatzendes Gelächter ausbrachen, daß die Billeteure Beruhigungstabletten verteilen mußten. Übrigens sind in englischen Theatern während der Vorstellung alle möglichen Dinge zu haben, Cakes, Steaks, Kissen, Bücher, Bilder, Bilderbücher, notfalls auch Haarwasser. Aber warum es die Engländer so sehr erheitert, auf der Bühne ihre eigenen Kleidungsstücke zu sehen, die sie doch an sich selbst in keiner Weise komisch finden - das gehört zu den vielen Geheimnissen des englischen Humors.
Ich gestehe, daß ich die Engländer um ihren Humor nicht weniger beneide als um die unvergleichliche Ausdruckskraft in ihrer Sprache. Am meisten jedoch beneide ich die englischen Humoristen. Und zwar beneide ich sie um ihr Publikum, dessen Lachbereitschaft ans Wunderbare grenzt. Es ist nicht bloß ein dankbares Publikum, es ist eine Nummer für sich. Wer jemals einen der orkanartigen Lachstürme miterlebt hat, die von jedem durchschnittlichen Variete-Programm oder von den populären Rundfunksendung der BBC entfesselt werden, wird mich verstehen. Wir in Israel genießen den Vorzug, diese Sendungen Tag für Tag hören zu können, wenn wir den britischen Militärsender der nahe gelegenen Insel Cypern einstellen.
Den Beginn des Lach-Bacchanals auf Kurzwelle erkennt man an einem donnernd einsetzenden Applaus. Er ist das Zeichen, daß die beiden Protagonisten des Heiterkeitsfestes die Szene betreten haben. Wenn er verklungen ist, fragt der eine von ihnen den anderen in breitem, nicht wiederzugebendem Cockney-Akzent: »Was'n los mit dir, Charlie?«
Die dröhnende Lachsalve, die darauf folgt, schrumpft alsbald zum verlegenen Hüsteln gegen die orkanartige Reaktion auf die Antwort des Befragten:
»'ch hab' heut' morgen 'n fürchterliches Sausen im Kopf gehabt, hab' ich gedacht.«
»Und was, Charlie«, fragt der erste, »was saust 'n in deim Kopfe, was saust da?«
An diesem Punkt nimmt der allgemeine Lachkrampf die Ausmaße einer hemmungslosen Massenhysterie an. Es dröhnt derart, daß der Apparat in Splitter zu gehen droht. Quer hindurch schrillen die letzten spitzen Aufschreie der in Ohnmacht fallenden Frauen. Im Hintergrund hört man die Sirenen der anfahrenden Ambulanzwagen. Aber das ist noch immer nicht der Gipfel. Der wird erst nach der nächsten Antwort erreicht. Sie lautet:
»Wer da saust? Weiß ich nicht!«
Kein Rand und kein Band mehr, aus dem das Publikum jetzt nicht geriete. Brüllendes, tosendes Gelächter von noch nie berechneter Megaphon-Stärke geht in rhythmisches Händeklatschen über, das von gellenden Pfiffen der Begeisterung kontrapunktiert wird. Minutenlang muß der erste Fragesteller warten, um die folgende Vermutung halbwegs hörbar zu machen:
»Vielleicht hast du die Nacht schlecht geschlafen, Charlie?«
»Wie soll ich denn schlafen, wenn's mir so im Kopfe saust, eh?«
Das gibt dem Publikum den Rest. Das bringt die letzten Säulen der sprichwörtlichen Zurückhaltung krachend zum Einsturz. Was sich jetzt abspielt, ist mit »Erdbeben« nur unzulänglich angedeutet. Es bedarf des prompten Einsatzes aller verfügbaren Platzanweiser, Sicherheitsorgane und Hilfstruppen, um völliges Chaos zu verhindern. Ein Sprecher meldet mit gedämpfter Stimme zwei Todesfälle. Dann ist die letzte noch intakte Röhre des Empfangsapparates durchgebrannt.
Der ausländische Hörer aber sitzt vor den rauchenden Trümmern seines Geräts und fragt sich ebenso verwundert wie vergebens, was da vorgegangen ist und was die eigentliche Ursache dieser orgiastischen Heiterkeitsstürme war. Jetzt wissen wir's. Und wenn wir von unsrem Besuch in England nichts andres mitgebracht hätten als diese Erkenntnis, so hätte sich's gelohnt. Jetzt wissen wir's: Die beiden Protagonisten müssen schwarze Melonen getragen haben...
Auch im Londoner Straßenverkehr tritt der Humor in seine Rechte. Zum Beispiel wird in England nicht - wie überall sonst in der Welt - rechts gefahren, sondern links. An dieser ungewöhnlichen Verkehrsordnung halten die Engländer mit der gleichen traditionsgebundenen Hartnäckigkeit fest wie an ihren (auch nicht mehr ganz zeitgemäßen) Gewichts- und Münzeinheiten.
Ferner gibt es in jeder Stadt mindestens fünfundzwanzig Straßen mit demselben Namen. Ein Blick auf den Straßenplan läßt erkennen, daß die gleichlautenden Namen nach den Ereignissen eines Würfelspiels über das Straßennetz verteilt wurden, wohin sie gerade fielen.
Häuser werden in England nicht mit abwechselnd geraden und ungeraden Ziffern numeriert. Man verwendet das Bumerang-System. Man beginnt auf der einen Straßenseite mit der fortlaufenden Numerierung der Häuser, und wenn es keine Häuser mehr gibt, läßt man die Nummern wieder zurücklaufen, so lange, bis sie auf einen Ausländer treffen und ihn niederstrecken. Witzbolde behaupten, daß manche Straßen in London anfangen und in Liverpool aufhören.
Die Frage liegt nahe, wie sich die Engländer unter solchen Umständen in ihren eigenen Städten zurechtfinden.
Die Antwort lautet: Sie finden sich nicht zurecht. Sie selbst kommen aus dem Staunen nicht heraus, halten sich aber auf dieses Staunen soviel zugute, daß sie es um keinen Preis missen möchten. Auch scheint es für sie von unerhörtem Reiz zu sein, einander zu erklären, wo sie wohnen und wie man zu ihrer Wohnung gelangt.
»Die Straße heißt St. John's Wood Court Road. Aber das Haus, in dem wir wohnen, heißt St. John's Wood Court House und liegt ganz anderswo, nämlich knapp vor der Kreuzung von St. John's Court Street und St. John's Road Wood. Können Sie mir folgen?«
»Nein.«
»Wissen Sie, wo Tottenham Court Road liegt?«
»Ja.«
»Ausgezeichnet. Dort nehmen Sie ein Taxi und geben dem Fahrer die Adresse.«
Glücklicherweise wohnten wir nicht im Zentrum Londons, sondern in einem »Swiss Cottage« genannten Stadtteil, dessen gleichnamige Untergrundbahnstation uns als sicheres Erkennungszeichen diente. Wir waren endlich dem Würgegriff der Hoteliers entgangen und hatten uns in einer Privatwohnung eingemietet. Ihre Inhaberin hieß Mrs. Mrozinsky und war, wie schon aus ihrem Namen hervorging, die einzige Witwe des verewigten Mr. Mrozinsky, eines typisch englischen Gentlemans von polnischem Geblüt. Er hatte ihr ein kleines Häuschen hinterlassen, dessen entbehrliche Zimmer an farbige Touristen zu vermieten waren (und da wir aus Israel kamen, wurden wir vom Zimmervermittlungsdienst in diese Kategorie eingestuft). Der Rest der Verlassenschaft bestand in einem hellhaarigen Hund namens Oswald, einer undefinierbaren Promenadenmischung, die aber von Mrs. Mrozinsky kaltblütig als hochgezüchteter Spaniel vorgestellt wurde. Sei dem wie immer - Mrs. Mrozinsky, die seit dem Beginn des zweiten Weltkriegs in England lebte, hatte sich dort schon so vollkommen akklimatisiert, daß sie auch die traditionelle Zuneigung des Engländers zu seinen vierbeinigen Freunden teilte. Sie sprach von Oswald viel öfter und liebevoller als von ihrem dahingeschiedenen Gatten, und sie hätte das geliebte Tier nicht eine Minute lang allein lassen mögen.
Einmal aber geschah das doch.
An jenem schicksalsschweren Nachmittag klopfte Mistreß Mrozinsky an unsre Zimmertüre und teilte uns mit, daß ihre Schwester plötzlich erkrankt sei, in Nottingham in Spital läge und dringend ihren Besuch erwarte, heute noch, sofort.
Uns ahnte Böses.
»Sollten Sie nicht besser erst morgen fahren, Mrs. Mrozinsky?« fragte ich besorgt. »Nächtliche Reisen sind unbequem.«
»Ich dachte, daß Sie mir den kleinen Gefallen tun...«
»Man wird Sie bei Nacht gar nicht in das Spital hineinlassen... «
»... und auf Oswald achtgeben könnten...« »... weil der Patient schlafen muß...«
»... nur bis morgen mittag...«
»Warum telefonieren Sie nicht nach Nottingham?«
»Ich danke Ihnen.«
Und ohne den einigermaßen wirren Dialog fortzusetzen, brachte sie uns den fröhlich wedelnden Oswald ins Zimmer.
»Sie brauchen ihn nicht öfter als einmal am Tag auf die Gasse zu führen«, rief sie uns im Abgehen zu. »Lassen Sie ihn ruhig an der Türe kratzen.«
»In England darf man Hunde in den Zug mitnehmen«, rief ich ihr nach. Aber die Wände blieben stumm.
Das alles wäre nie geschehen, wenn unsere Beziehungen zu Mrs. Mrozinsky nicht gar so freundlich gewesen wären. Die alte Dame hatte sich eng an uns angeschlossen, hatte uns von den Schrecken des Blitzkriegs und des Bombardements erzählt, von den ständig wachsenden Lebenskosten in England und von vielen anderen persönlichen Problemen. Jetzt rächte sich unsre Geduld. Nicht als ob wir etwas gegen Hunde gehabt hätten. Wir lieben Hunde. Besonders meine Frau liebt sie sehr. Je weiter so ein Hund entfernt ist, desto mehr liebt sie ihn. Auf Reisen allerdings liebt sie ihn nicht einmal dann. Und folglich war das Gespräch, das nach Mrs. Mrozinskys Abgang zwischen uns stattfand, nicht besonders liebevoll.
»Warum, um Himmels willen, hast du dich breitschlagen lassen?« fragte meine Frau.
»Na wenn schon«, antwortete ich. »Dann werden wir den Hund eben ins Theater mitnehmen.«
Das war alles.
Mit der größten Selbstverständlichkeit hüpfte Oswald in unsern gemieteten Mini-Minor, als wir am Abend ins Ambassador-Theater aufbrachen, wo die »Mausefalle«, immer noch ausverkaufte Häuser machte. Oswald nahm den Rücksitz und heulte. Er hörte nicht auf zu heulen. Er heulte wie ein kleines Kind. Ich habe noch nie einen erwachsenen Hund getroffen, dessen Heulen dem Heulen eines Kindes so ähnlich war. Und so ausdauernd.
Schön und gut, sein Frauchen war zu ihrer Schwester nach Nottingham gefahren. Aber schließlich hatte sie ihn nicht auf der Straße ausgesetzt, wie? Er saß ja in einem weichen Rücksitz eines beinahe neuen, gutgepolsterten, englischen Wagens, nicht wahr? Was gab es da zu heulen?
»Das ist kein Hund«, stellte die beste Ehefrau von allen sachlich fest. »Das ist ein getarnter Schakal. Gott steh uns bei!«
Ich parkte den Wagen in einer nahen Seitengasse (mit Mietwagen hat man keine solche Angst vor Strafzetteln). Das Rückzugsgefecht gegen den stürmisch nachdrängenden Oswald war kurz und heftig. Es endete mit seiner Niederlage. Lange sah er uns nach, die Schnauze ans Fenster gepreßt, die Augen voller Tränen. Und er hörte nicht auf zu heulen...
Der Mörder bewegte sich noch vollkommen frei auf der Bühne, als unser schlechtes Gewissen uns aus dem Theater trieb, zurück zu dem Hund, den wir lebendig begraben hatten. Wir fanden Oswald in schlechter Verfassung. In den zwei Stunden pausenlosen Heulens und Bellens war er heiser geworden und konnte nur noch jaulen.
Dafür sprang er, wie wir schon von weitem sahen, unermüdlich im Innern des Wagens hin und her, von einem Fenster zum ändern, und zwischendurch aufs Lenkrad, wo er die elektrische Hupe betätigte.
Eine Menge Fußgänger stand um den Wagen herum. Eine feindselige Masse. Ihr Urteil war einmütig, und es war ein Urteil der Verdammnis.
»Wenn ich den Kerl erwische...« äußerte ein athletisch gebauter junger Mann, unter dessen bloßem Ruderleibchen die Muskeln schwollen. »Wenn ich den Kerl, der das arme Tier eingesperrt hat, zwischen die Fäuste bekomme...«
»Die haben nicht einmal daran gedacht, das Fenster einen Spalt breit offenzulassen«, murrte ein andrer. »Das arme Tier wird ersticken.«
»Solche Leute müßte man einsperren...«
»Dann würden sie wenigstens wissen, wie das tut...«
Den letzten Worten folgte allgemeine Zustimmung, der auch ich mich anschloß. Der Mann im Ruderleibchen hatte mir nämlich gleich bei meinem Auftauchen einen bösen Blick zugeworfen.
»Diesen Barbaren gebührt nichts Besseres«, sagte ich eilig.
»Mit einem hilflosen Tier so umzugehen...«
Es war höchste Zeit für eine Klarstellung meiner Position, denn Oswald hatte uns entdeckt und bellte hinter dem Fenster direkt auf uns los.
»Es kann nicht mehr lange dauern, Schnauzi«, tröstete ihn ein gebrechlicher alter Herr. »Die Mistkreaturen, die dich hier alleingelassen haben, müssen ja irgendwann zurückkommen.«
»Wenn ich den Kerl erwische!« wiederholte der Ruderleibchenathlet. »Der wird nichts zu lachen haben!«
Es machte keinen guten Eindruck auf mich, daß dem Athleten einige obere Zähne fehlten. Ich hielt es für angebracht, seinen Tatendurst abzulenken.
»Lassen Sie auch noch etwas für mich übrig!« rief ich mit geballten Fäusten. »Ich breche ihm jeden Knochen im Leib.«
»Recht so!« Und das war meine Frau. »Jeden einzelnen Knochen!«
Was zum Teufel fiel ihr da ein? Wollte sie den Mob gegen mich aufhetzen? Oder Ruderleibchens athletische Fähigkeiten auf die Probe stellen?
Die Atmosphäre roch deutlich nach Lynchjustiz. Wenn diese Fanatiker jetzt noch draufkämen, daß es ein verdammter Ausländer war, der einen britischen Vierbeiner mißhandelt hatte... Oswald merkte natürlich, in welch peinlicher Lage wir uns befanden, und verstärkte die Peinlichkeit durch unablässiges Hupen. Er besaß offenbar kein Organ dafür, daß seine Stiefeltern ohnehin ihr möglichstes taten. Eben jetzt hatte ich mit blutrünstig verzerrtem Gesicht nochmals ausgerufen:
»Na? Wo steckt der Lump?«
Eine verwitterte, längst ausgediente Repräsentantin des Londoner Nachtlebens verlor die Geduld:
»Steht nicht bloß so herum, ihr Männer!« rief sie mit schriller Stimme. »Tut doch endlich was!«
Aller Augen wandten sich mir zu. Meine kompromißlose Angriffsbereitschaft hatte mich unversehens in die Führerrolle gedrängt, trotz meines ausländischen Akzents. Ich ergriff das Steuer:
»Die Dame hat vollkommen recht«, sagte ich entschlossen und deutete mit Feldherrngeste auf das Ruderleibchen: »Sie dort!
Holen Sie sofort einen Polizisten!«
Meine Hoffnung, den Gewalttäter auf diese Weise loszuwerden, blieb leider unerfüllt. Er schüttelte den Kopf.
»Mit der Polizei verkehre ich nicht«, grinste er.
»Ich würde schon einen holen«, nuschelte der gebrechliche alte Herr. »Aber ich habe das Zipperlein in den Knien.«
»Es gibt in dieser Gegend keine Polizisten«, ließ ein Ortskundiger sich vernehmen. »Der nächste steht auf der Monmouth Street.«
Es war offenkundig, daß die Leute sich vor der Erfüllung ihrer Bürgerpflicht drücken wollten.
»Schön.« Mein Blick streifte verächtlich über die untätige Schar. »Dann nehme ich den Wagen und hole die Polizei. Ihr wartet hier.«
Damit hatte ich den Schlag geöffnet, hatte meine verblüffte Gattin mit raschem Schwung in den Wagen gestoßen und gab Vollgas. Die Größe des Augenblicks ließ sogar Oswald verstummen. Auch die disziplinierte britische Menge blieb auftragsgemäß stehen. Erst als wir schon gut zwanzig Meter zwischen sie und uns gelegt hatten, kam Leben in die Bande. Wir hörten noch ein paar wilde Flüche, sahen noch einige drohende Gestalten zur Verfolgung ansetzen - dann waren wir um die Ecke und gerettet. Oswald leckte mir überglücklich Hände und Gesicht. Er war wirklich ein herziges, braves Tierchen, unser Oswald. Wir hatten ihn richtig liebgewonnen, als wir uns ein paar Tage später und hoffentlich für immer von ihm verabschiedeten.
Bevor wir den Flug über den Ozean antraten, leisteten wir uns noch rasch einen Zwischenaufenthalt in Amsterdam. Wie so viele unserer Landsleute hegten wir aufrichtige Zuneigung zu den Holländern, die sich ihre Anständigkeit und Menschlichkeit auch zu einer Zeit bewahrt hatten, da diese beiden Eigenschaften in Europa nicht eben hoch in Kurs standen. Außerdem hatten wir auf unserer Reise immer wieder die Kunstschätze Hollands rühmen hören und die baulichen Schönheiten der holländischen Städte.
Amsterdam, so sagte man uns, stünde um nichts hinter Venedig zurück: imposante Kanäle... Gärten und Statuen... prächtige Theater und Konzertsäle... zauberhafte Giebelhäuser... ganz zu schweigen von... also von diesem gewissen Viertel, wo man an den Fenstern... angeblich gibt es so ein Viertel in Amsterdam... und dort sitzen sie also an den Fenstern, die Mädchen.
Selbstverständlich hatten wir diesem albernen Touristengewäsch weder Ohr noch Glauben geschenkt. Auch ich selbst hatte kaum hingehört. Solche Dinge interessieren mich nicht. Ich bin ein ernster, reifer, vom Leben hart geprüfter Mann, der seine Erfahrungen bereits hinter sich hat. Ich mache in einer Stadt, die für ihre Museen berühmt ist, nicht etwa deshalb Station, um dann vielleicht... ich denke nicht daran.
»Also, du denkst nicht daran«, nickte meine Gattin, als wir dem Flugzeug entstiegen. »Ganz wie du willst. Was mich betrifft, so möchte ich keinesfalls darauf verzichten, die Mädchen in den Fenstern sitzen zu sehen.«
Ich fragte, wo ihre frauliche Würde bliebe, bekam aber eine ausweichende Antwort:
»Es gibt sogar einen Film mit Marina Vlady, der in diesem Amsterdamer Viertel spielt. Das muß man sich anschauen.«
Ich bin lange genug verheiratet, um zu wissen, wann jeder Widerspruch sinnlos wird. Und da auch ich im Grund meines Herzens eine gewisse Neugierde nicht ganz unterdrücken konnte, gab ich nach. Als wir das Taxi bestiegen, war die Sache entschieden. Wir würden hingehen.
Hin? Wohin? Und wie? Das bewußte Viertel war in keinem Stadtplan eingezeichnet und der Weg in keinem Touristenführer beschrieben.
»Dann mußt du jemanden fragen«, sagte die beste Ehefrau von allen.
»Frag doch du!«
»Ich, wenn mich nicht alles täuscht, bin ich die Dame von uns beiden.«
Eine ungemein anregende Diskussion war die Folge. Ich erklärte meiner Gattin, daß gerade dehalb, weil sie eine Dame und als solche über jeden Verdacht erhaben wäre, das Einholen derartiger Auskünfte ihr zufiele, nicht mir. Oder sollte ich mich vielleicht auf die Straße stellen, den erstbesten Passanten aufhalten und - ich arbeitete das Lächerliche der Situation kraß heraus - und ihn ganz einfach fragen, wo man in Amsterdam die... also die Fenstersitzerinnen fände. Das kann man mir doch nicht zumuten. Ich sei ein Feigling und sollte mich schämen, resümierte meine Gattin und beugte sich zum Fahrer vor:
»Sagen Sie einmal... was ist denn hier in Amsterdam besonders sehenswert? Ich meine: besonders?«
»Im Königlichen Museum wurde gestern eine moderne Kunstausstellung eröffnet«, antwortete der gut unterrichtete Chauffeur. »Und das internationale Musikfestival soll ganz hervorragend besetzt sein.«
»Ja, gewiß. Aber das meine ich eigentlich nicht. Mein Mann und ich würden gerne etwas wirklich Aufregendes sehen.« »Ich verstehe. Dann gehen Sie doch um Mitternacht in den Hafen, wenn die Gemüsekähne ausgeladen werden. So etwas sieht man nicht oft...«
»Danke für die Auskunft. Vielen Dank.«
Ich saß im Fond, das Gesicht von Schamröte übergössen. Andererseits begann sich mein männlicher Stolz zu melden. Ich bin ja kein kleines Kind mehr, das sittsam an der Hand seiner Gouvernante dahinzutrippeln hat. Wenn ich wissen will, wo man die... wo man diese Fenster findet, dann gehe ich eben zum Hotelportier, beuge mich lässig zu ihm vor und frage ohne alle Umschweife: »Hören Sie, lieber Freund, wo sind hier... Sie wissen schon... das mit den Fenstern...«
Ein Lächeln erhellte das Gesicht des Portiers: »Die Königin weilt um diese Zeit in ihrer Sommerresidenz. Aber den königlichen Palast können Sie jederzeit besuchen. Sie finden ihn mühelos. Jeder Mensch zeigt Ihnen den Weg.«
»Danke sehr.«
Es war wirklich zu dumm. Der Gedanke, daß vielleicht ein paar Straßenzüge weiter, ja vielleicht schon hinter der nächsten Ecke die Gegend anfing, wo Scharen lässig hingelehnter Frauen aus allen Fenstern hervorlugten, ohne daß wir sie zu finden wußten - dieser Gedanke konnte einen empfindsamen Menschen sehr wohl an den Rand des Wahnsinns treiben. Ein Glück, daß unser Abend bereits durch eine Einladung des holländischen PEN-Clubs belegt war.
»Wir fliegen morgen um acht Uhr ab«, zischte die beste Ehefrau von allen. »Wir brauchen die Adresse noch heute nacht!«
Heute nacht. Dann blieb nur der PEN-Club als Auskunftsstelle übrig. Aber wie sollte ich das Gespräch in die, geeigneten Bahnen lenken?
Als das Einleitungsgeplauder zu verebben begann, stürzte ich ein Glas des schärfsten indonesischen Reisschnapses hinunter und wandte mich an einen Vertreter des einheimischen Geisteslebens:
»Spinoza, zu dem Sie ja sicherlich eine besondere, lokalbedingte Beziehung haben - Spinoza hat die These aufgestellt, daß die Philosophie eigentlich nur als Katharsis eines hypokritischen Humanismus aufzufassen sei. Das heißt: Der Philosoph entlarvt die konventionellen Lügen der Gesellschaft, in deren Schatten und unter deren Schutz die menschliche Hypokrisie ihre Paläste baut, die in Wahrheit nichts weiter sind als - verzeihen Sie den Ausdruck - Bordelle!«
»Ja, ja«, bestätigte mein Gesprächspartner, einer der führenden Erkenntnistheoretiker des Landes. »Spinozas scharfer analytischer Verstand ist bis heute unübertroffen.«
Der Mann war ein Kretin. Hätte er nur ein wenig Intelligenz und Instinkt besessen, so müßte seine Antwort ungefähr folgendermaßen gelautet haben: >Apropos Bordelle - gleich hier, mitten in Amsterdam, gibt es ein ganzes Viertel, wo Frauen in jeder Preislage in den Fenstern sitzen. Wollen Sie sich das nicht ansehen?< Das wäre die passende Antwort gewesen. Statt dessen erzählt mir dieser Kretin etwas von den philosophischen Analysen eines getauften Juden... Ich kippte einen noch schärferen Brandy, schloß die Augen und versuchte es aufs neue:
»Spinoza hin, Spinoza her - was mich an Ihrem Land fasziniert, ist seine gesunde, freimütige, von keinen Hemmungen beeinträchtigte Lebensart. Wenn ich richtig informiert bin, gibt es sogar hier, mitten in Amsterdam, ein ganzes Viertel, von dem jedermann weiß, daß es der öffentlichen Prostitution vorbehalten ist?«
Meine Gattin hatte sich herangepirscht und nickte mir aufmunternd zu.
»Ach«, lächelte der Erkenntnistheoretiker. »Sie meinen offenbar... hehehe... Sie meinen das Viertel, wo die Damen in den Fenstern sitzen!«
»Wie bitte? In den Fenstern?«
»Ganz richtig. Ein solches Viertel gibt es bei uns.«
»Tatsächlich? Und wo?!«
»Hier in Amsterdam. Die Touristen strömen scharenweise hin.«
In den Augen meiner Gattin flammten zornige Pünktchen, die soviel bedeuteten wie: >Siehst du! Alles strömt, nur wir sitzen noch hier...<
»Um die Wahrheit zu sagen«, fuhr der Auskunftgeber fort, »tolerieren wir dieses Viertel überhaupt nur der Touristen wegen. An sich ist es eine Kulturschande. Tag und Nacht stehen die Fremden mit ihren Fotoapparaten vor den Fenstern und knipsen drauflos, als ob sie im Zoo wären. Einfach abscheulich!«
»Abscheulich«, wiederholte ich. »Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Die gierigen Gesichter und das Klicken der Kameras... die ganze Straße ist voll davon... die ganze... wie hieß die Straße doch gleich?«
»Straße? Das spielt sich nicht auf der Straße ab. Wenn die Herren Touristen genug geknipst haben, verschwinden sie in den Häusern und feilschen mit den armen Mädchen stundenlang um die Taxe. Es ist wirklich degoutant!«
»Degoutant ist gar kein Ausdruck.« Ich biß die Zähne zusammen, um meine Erbitterung nicht merken zu lassen. Die weithin sichtbare Depression, in der ich mich jetzt befand, rechtfertigte unsern baldigen Aufbruch.
Unsre Strategie stand fest. Wir würden die Stadt durchkämmen, würden aus dem östlichen Zipfel nach Norden vorstoßen, dann die Querstraßen in westlicher Richtung durchstreifen und uns schließlich so lange südwärts halten, bis wir irgendwo auf ein rotes Licht stießen. Früher oder später mußten wir eines finden.
Wir mußten nicht, und wir fanden keines.
Gegen zwei Uhr nachts hielten wir erschöpft Rast, ohne eine einzige lebende Prostituierte gesehen zu haben. Da und dort hatte zwar ein rotes Licht aufgeblinkt, aber das war dann immer eine Verkehrsampel. Ein Nachtapotheker, den ich aus tiefem Schlag geweckt hatte, um ihn in ein Gespräch über den »ältesten Beruf der Welt« zu verwickeln, gab mir höflich zu verstehen, daß das Ackerbauministerium nachts geschlossen sei. Niedergeschlagen und hoffnungslos setzten wir unsern Weg fort. Um 3 Uhr 30 hatten wir erst ein Fünftel der Stadtfläche bewältigt. Die Straßen standen leer. Amsterdam schlief.
Es war nach vier, als ich vor dem Konzertgebouw einen Polizisten stehen sah. Jetzt war mir alles egal. Mit letzter Kraft stolperte ich auf ihn zu, hielt mich an seinem Uniformkragen fest und keuchte:
»Wo sind die Huren?«
»Die zweite Brücke hinter dem Dom«, antwortete der Hüter des Gesetzes bereitwillig. »Kanalstraat.«
Dieses, geneigter Leser, ist also die Adresse. Manchmal lohnt es sich, ein überlanges Buchkapitel zu Ende zu lesen.